Von der Kunst des Überlebens und der Wiederentdeckung kooperativer Ökonomie

Franca Parianen: Teilen und Haben. Warum wir zusammenhalten müssen, aber nicht wollen, Bonn: Sonderausgabe für die Bundeszentrale für politische Bildung, 2022 (= Schriftenreihe; 10804), ISBN: 978-3-7425-0804-1, 144 Seiten, 4,50 €

Rezension von Markus Henning

Konflikte und Krisen stürmen auf uns ein. Risse im sozialen Gefüge vertiefen sich zu Gräben. Die Grenzen des Wachstums, die Klimakatastrophe und die Unbewohnbarkeit des Planeten sind längst mehr als abstrakte Drohszenarien. Und dennoch: Wirtschaft und Gesellschaft halten stoisch-verzweifelt am Operationsmodus der letzten Jahrzehnte fest, können sich offensichtlich nicht einmal auf grundlegende Fakten und verbindliche Ziele, geschweige denn auf konkret zu ergreifende Maßnahmen einigen.

Das liegt vor allem daran, dass sie die Grundvoraussetzungen gemeinschaftlichen Lebens verlernt haben. Statt auf Solidarität, Gegenseitigkeit und Vertrauen ist ihre politische Kultur auf Hierarchie, Konkurrenzdruck und institutionalisierte Verantwortungslosigkeit aufgebaut.

So lautet der Befund der Neurowissenschaftlerin Franca Parianen (geb. 1989). In ihrem neuen Buch plädiert sie für einen strategischen Perspektivwechsel: Um realitätstaugliche Handlungsfähigkeit zurück zu gewinnen, muss die Bedeutung menschlicher Zusammenarbeit und einer darauf beruhenden Verteilungsgerechtigkeit wieder ins allgemeine Bewusstsein gehoben werden.

Es geht um die „Magie kooperativer Verflechtungen“ (S. 90), durch welche die Gemeinschaft mehr wird als die Summe ihrer Mitglieder. Es geht um das kooperative Teilen von Arbeit, Ressourcen und Wissen, das nichts mit bloßer Großzügigkeit, dafür umso mehr mit Fairness und der Notwendigkeit zu tun hat, unsere Lebensgrundlagen langfristig zu sichern. Es geht darum, Machtgefälle abzubauen. Und es geht um das Erinnern an unsere gegenseitige Abhängigkeit als Produktivkraft für ein neues, selbstbestimmtes und egalitäres Miteinander.

In erfrischend ironischer, kraftvoll bildhafter Sprache führt Parianen uns vor Augen, wie soziale Intelligenz und Mitgefühl, bewusste Arbeitsteilung und gegenseitige Hilfe dem Homo sapiens über die Zeitläufe hinweg klare Entwicklungsvorteile gegenüber anderen Primaten verschafften. Zugleich – und dadurch wird ihre Untersuchung auch für den freiwirtschaftlichen Diskurs bedeutsam und anschlussfähig – arbeitet Parianen pointiert heraus, warum die vorherrschende Wirtschaftswissenschaft gerade diese wegweisenden Erkenntnisse aus Evolutionsgeschichte und Kognitionsforschung bis auf den heutigen Tag systematisch ausblendet:

„Unser Sozialleben ist das, was uns Menschen ausmacht, unser einziges Erfolgsgeheimnis. Umso irrwitziger, dass unsere ökonomischen Modelle es auf Biegen und Brechen außen vor lassen wollen. Im Endeffekt klammern wir nicht nur aus, wozu wir fähig sind, sondern auch welche Bedingungen es dafür braucht. Oder wie viel bitterböses Blut entsteht, wenn man sie verletzt“ (S. 100).

Spätestens mit dem Siegeszug des Sozialdarwinismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde das Verständnis von Wirtschaft als einer gemeinschaftlichen, interdependenten Organisationsform dogmengeschichtlich verabschiedet. An seine Stelle trat das ideologisch wirkmächtige Credo vom Kampf „Jeder gegen Jeden“, bei dem am Ende nur die Stärksten überleben. Ihm entspricht das neoklassische Menschenbild des Homo oeconomicus: Von jedem sozialen Gefüge losgelöst, gleichwohl mit vollständigen Informationen ausgestattet und in instrumenteller Rationalität selbstsüchtig seinen Nutzen maximierend.

Das Kunstwesen des Homo oeconomicus inmitten einer mathematisierten Scheinwelt sich selbst regulierender Märkte und der daraus abgeleitete, technokratische Vernunftbegriff haben gesellschaftlich tiefe Spuren hinterlassen. Im Vollzug neoliberaler Wirtschaftspolitik sind sie längst zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung geworden.

Wo Marktwirtschaft mit Beziehungslosigkeit gleichgesetzt wird, wo Gemeingüter und nichtmonetäre Daseinssicherung (Stichwort: Care-Arbeit) dem eigenen Bewertungskonzept widersprechen, wo die Reduktion auf abstrakte Zahlen die sozial-ökologischen Aspekte einer Entscheidung ausblendet, wo jede intrinsische Motivation zur Zusammenarbeit und jede überindividuell geteilte Ethik geleugnet werden, da bleibt letztlich nur der Staat und sein Zwangsapparat, um die Menschen sozial zu motivieren. „Mit dieser völlig wertfreien Annahme betreiben wir dann ein Jobcenter“ (S. 104).

Dabei zeigt die vergleichende Verhaltenslehre, dass gerade Strafandrohungen die Bereitschaft zur Kooperation und zum Teilen untergraben. Dasselbe gilt für die Erfahrung struktureller Ungerechtigkeit.

Als wesentliche Faktoren, die einer sozial ausgewogenen und umweltverträglichen Teilhabe entgegenstehen, identifiziert Parianen die heutige Gestalt der Geld- und Finanzwirtschaft, die damit verbundene Reichtums-Konzentration und das Privateigentum an knappen oder künstlich knapp gehaltenen Ressourcen. „Allzu viel Haben kann uns das Teilen also ganz schön schwer machen. Trotzdem loben wir beharrlich Sparsamkeit und Reichtum, und niemand sagt uns, dass Dagoberts Geldspeicher dem Geldkreislauf schadet“ (S. 128).

In kooperativer Perspektive tritt Parianen für eine Umverteilung durch höhere Spitzensteuersätze ein. Hierin folgt sie dem französischen Ökonomen Thomas Piketty (geb. 1971). Ihre Analyse würde aber auch sehr gut zum Programm der Freiwirtschaft passen, das die Einbettung des Marktmechanismus in antikapitalistische Strukturreformen der Geld- und Bodenordnung anstrebt. Es wäre spannend, mit ihr hierüber in den Diskurs zu treten.

Das Buch Teilen und Haben ist eine echte Besinnungschance. Mit dem grundsätzlichen Optimismus, den es für tiefgreifende Änderungen braucht, fordert Franca Parianen zum zivilgesellschaftlichen Aufbruch und zum Erproben neuer Handlungsmuster auf: „Am Ende gewinnen oft Gruppen, die bewusst aufs Strafen verzichten, kooperative Untergruppen bilden oder eben im Notfall einfach die Kooperation verweigern“ (S. 103).

Es ist höchste Zeit, den gesellschaftlichen Rhythmus zu ändern. Denn die Zukunft ist nicht nur das, was auf uns zukommt. Sie ist vor allem das, was wir schon heute aus ihr machen.