Renitenz, Subversion und publizistische Schelmenstreiche

Olaf Briese / Alexander Valerius: Findbuch archivalischer Quellen zum frühen Anarchismus. Beiträge zur Erschließung von Akten aus Berliner Archiven über die „Freien“ (1837-1853), Einleitung v. Olaf Briese, hrsg. v. Wolfgang Eckhardt, Bodenburg: Verlag Edition AV, 2021 (= Findmittel und Bibliographien der Bibliothek der Freien; 3), ISBN: 978-3-86841-273-4, 372 Seiten, 18,00 €
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Rezension von Markus Henning

In welchem Verhältnis stehen radikale Kritik und positive Gesellschaftsentwürfe? Wohin weisen subkulturelle Lebensformen? Wie bestimmt sich das Subjekt sozialer Transformation? Was wären gerechte Eigentumsverhältnisse und welche Funktion hat der Staat? Seit Beginn der Moderne inspirieren derartige Fragen das herrschaftskritische Denken. Verbindendes Moment seiner lebendigsten Phasen ist die immer wieder erneuerte, kollektive Suchbewegung nach jeweils zeitgemäßen Antworten.

Eine dieser historischen Phasen voll intellektueller Neugier, voll Experimentierfreude und mutiger Tatkraft waren die Jahre rund um die 1848er-Revolution in Deutschland. Ein Zeitfenster, für das uns jetzt eine Publikation von Olaf Briese und Alexander Valerius den Blick öffnet. In ihrem Findbuch archivalischer Quellen zum frühen Anarchismus laden sie ein zur Reise durch Berliner Archive und erschließen uns in einer systematischen Dokumentation zeitgenössische Schriftstücke und behördliche Akten (S. 161-371).

Innerhalb des sich damals ausdifferenzierenden Stroms oppositioneller Bewegungen spüren sie einem besonderen Segment nach: Jenem Netzwerk linkshegelianischer Freigeister, das sich seit Mitte 1842 unter dem Namen der Berliner „Freien“ in die Geschichte libertärer Positionierungen einschrieb.

Bewegungssoziologisch können die „Freien“ als ein situatives Kraftfeld politischer Renitenz und kultureller Subversion beschrieben werden. Ihre regelmäßigen Zusammenkünfte in Kneipen und Lesekabinetten, ihre kollektiven Ausflugsfahrten und Wandertouren waren Happenings, um die sich zu ihrer besten Zeit, also bis etwa 1845/46, ein heterogen zusammengesetztes Publikum von bis zu 100 erlebnishungrigen Männern und Frauen versammelte. Aber auch danach und bis über die Revolutionstage 1848 hinaus hielt der engste Kreis seinem Stammlokal die Treue. Das war die Hippelsche Weinstube in der Friedrichstraße, von der ein Polizeibericht im Januar 1846 vermeldet hatte: „[Sie] nennt sich der Anarchistenklub“ (zit. in: S. 163).

In einem permanenten Katze-und-Maus-Spiel gegen die staatliche Zensur war die Kerngruppe der „Freien“ selbst vorrangig mit publizistischen Projekten befasst. Deren Spektrum reichte von philosophischen Buchproduktionen über operative Kampfschriften bis hin zur tagesaktuellen Journalistik mit dem Ziel einer verbreiterten sozialen Massenbasis.

Unser Empfinden für das Pionierhafte ihrer Leistungen schärft Olaf Briese in seiner ebenso umfassenden wie feinanalytisch tiefgehenden Einleitung (S. 7-159).

Vor allem ist die vormärzliche Ideenlandschaft zu berücksichtigen, „[…] in der Republikanismus, Sozialismus/Kommunismus und Anarchismus noch nicht als voneinander getrennte ‚Ismen‘ existierten, sondern Pole eines gemeinsamen Spannungsfeldes bildeten“ (S. 156). Inmitten dieser Gemengelage entfaltete sich bei den „Freien“ eine ganz spezifische Diskursdynamik. Sie oszillierte zwischen verschiedenen, sich wechselseitig verstärkenden Momenten: Einem öffentlich inszenierten, antibürgerlichen Gruppengebaren – signalgebenden politischen Aktionen – der Auseinandersetzung mit behördlichen Repressionen – und vor allem leidenschaftlich geführten philosophischen Überbietungswettkämpfen. Hierüber mündete das publizistische Schaffen einzelner Akteure geradewegs in ein plurales Universum von „[…] Individualanarchismen mit unterschiedlicher Kontur“ (S. 29).

In seinem lose strukturierten Zentrum begegnen uns Namen, die mit bedeutenden Meilensteinen vormärzlicher Staats- und Ideologiekritik verbunden sind. Da ist z.B. Edgar Bauer (1820-1886) und seine anarchistische Programmschrift Der Streit der Kritik mit Kirche und Staat (1843). Sie brachte ihm eine vierjährige Festungshaft ein und fand in der historischen Forschung erst sehr spät die ihr gebührende Aufmerksamkeit. Da ist Bruno Bauer (1809-1882), der als weitsichtiger und anarchistisch anschlussfähiger Kritiker der Moderne ebenfalls noch entdeckt werden muss. Da ist Max Stirner (d.i. Johann Caspar Schmidt; 1806-1856), der in seinem Hauptwerk Der Einzige und sein Eigenthum (1844) verdinglichten Zwängen jedweder Art den Kampf ansagte. Er plädierte für die permanente Selbstbefreiung und freie Vereinigungsmöglichkeit der Individuen. „Man könnte von beständig fluktuierenden Interaktionsnetzwerken zu Zwecken gegenseitigen Nutzens sprechen“ (S. 61). Weniger bekannt – und hierauf legt Olaf Briese ebenfalls Nachdruck – ist Stirner als Übersetzer, profunder Kenner und Analyst der bedeutendsten nationalökonomischen Debatten seiner Zeit. Und da ist Ludwig Buhl (1814-ca. 1882), der mit der Berliner Monatsschrift 1844 die erste anarchistische Zeitschrift in Deutschland herausgab.

Aber auch bei gelegentlichen Besucher:innen und in der weiteren Peripherie – dort, wo es Überschneidungen mit anderen Berliner Bohemien-Gruppen gab – stoßen wir auf interessante Persönlichkeiten. Da ist z.B. der junge Friedrich Engels (1820-1895), der 1841/42 bei den „Freien“ verkehrte und eigenständige libertäre Konzepte entwickelte, bevor ihn Karl Marx (1818-1883) auf kasernensozialistische Linie brachte. Und da waren emanzipierte, anarchistisch gesinnte Frauen wie Louise Aston (1814-1871). In einer Polizeivernehmung gab sie im März 1846 zu Protokoll: „Ich glaube nicht an Gott u. rauche Cigarren“ (zit. in: S. 165) – und wurde postwendend der Stadt verwiesen. So wie Aston trat auch Emilie Lehmann (geb. ca. 1817) provokativ in Männerkleidern auf und geriet darüber in anhaltende Konflikte mit den Verfolgungsbehörden in Königsberg. Vollends kämpferisch wurde ihr libertäres Engagement während der Revolutionszeit 1848.

Selbst nach Niederschlagung der Revolution zeigten die bei den „Freien“ vollzogenen Weichenstellungen ihre Wirkung. 1850 erschien in Berlin die erste deutschsprachige anarchistische Tageszeitung: die Abend-Post, die in ihrem inhaltlichen Profil das Proudhonsche Assoziationsmodell mit anti-etatistischen Freihandelsidealen verknüpfte. Die beiden leitenden Redakteure, Eduard Meyen (1812-1870) und Julius Faucher (1820-1878), waren ehemalige Mitstreiter aus dem Kreis der Berliner „Freien“.

Dies alles und noch viel mehr beleuchtet Olaf Briese in einer ebenso lesefreundlichen wie wissenschaftlich präzisen Sprache. In seinen Ausführungen erscheint Bekanntes in neuem Licht und wird bislang Verborgenes überhaupt erst sichtbar. Das ist von mehr als nur historischem Interesse.

Besonders wertvoll wird Brieses Analyse u.a. dort, wo er auf die unterschiedlichen Facetten des Praktisch-Werdens der linkshegelianischen Philosophie verweist. Wie die im Dokumentationsteil des Bandes in Tabellenform aufbereiteten 55 Akteneinheiten aus Berliner Archiven verdeutlichen, pflegten die Berliner „Freien“ eine Form zivilen Ungehorsams, die behördliche Nachstellungen und Verfolgungen unerschrocken in Kauf nahm. Damit antizipierten sie vieles von dem, was wir heute als bürgerrechtliches Engagement bezeichnen, wozu uns aber nur allzu oft die Zivilcourage fehlt. Auch wenn die Zukunft nicht in Stein gemeißelt ist, brauchen wir doch Mut, sie zu gestalten. An den Berliner „Freien“ können wir uns ein Beispiel nehmen.

(Diese Rezension wurde erstmals veröffentlicht in: espero (Neue Folge), Nr. 5 / Juli 2022, S. 322-325)