Werner Onken: Silvio Gesell in der Münchener Räterepublik. Eine Woche Volksbeauftragter für Finanzwesen im April 1919, 2. überarbeitete u. ergänzte Aufl., Oldenburg, 2018, ISBN 978-3-933891-31-0, 110 Seiten
Rezension von Markus Henning

„Grenzen töten!“ – dieses Graffito gegen die EU-Abschottungspolitik prangte über Monate an der Gartenmauer unserer Nachbarschaft. Vor kurzem wurde es entfernt. Aber seine Botschaft bleibt. Schlagartig kam sie mir wieder in den Sinn, als ich in Werner Onkens neuem Buch auf das einhundert Jahre alte „Programm des Sozialistischen Freiheitsbundes (SFB)“ stieß.
Es wurde Ende April 1919 in München inmitten revolutionärer Umbrüche unter gemeinsamer Federführung von Silvio Gesell und Gustav Landauer formuliert. Um die wirtschaftlichen Grundlagen für einen „dauerhaften Bürger- und Völkerfrieden“ herzustellen, fordert es die Einbettung des Marktmechanismus in antikapitalistische Strukturreformen: Zum einen den Abbau der Geldmacht durch eine umlaufgesicherte Währung (Freigeld). Zum anderen aber die Entmonopolisierung von Grund, Boden und natürlichen Ressourcen (Freiland), um ausnahmslos allen Menschen einen gleichberechtigten Zugang „auf den ganzen Erdball“ zu ermöglichen. „Der SFB erklärt dieses Recht als erstes und höchstes Menschenrecht […]. Der SFB […] anerkennt keine Landesgrenzen, sofern sie der Ausschließung oder Abschließung dienen. Er verneint den Staaten ausdrücklich das Recht, die Einwanderung zu kontrollieren. Er erkennt den ‚Altangesessenen‘ keinerlei Vorrecht auf den Boden an. Wir alle sind ‚Altangesessene‘ dieser Erde“ (S. 46).
Die geplante, letztlich aber nicht mehr zustande gekommene Gründung des SFB hatte die libertären Kräfte im Zeichen eines freiheitlichen Sozialismus bündeln sollen. Seine Programmschrift fasste im Wesentlichen die sozialpolitischen Bestrebungen zusammen, die Silvio Gesell als Volksbeauftragter für das Finanzwesen in der ersten Münchener Räterepublik (7.-14. April 1919) vertreten hatte. Ernannt worden war er auf Empfehlung des Sozialdemokraten Ernst Niekisch und der Anarchisten Gustav Landauer und Erich Mühsam.
Seine politische Motivation beschrieb Gesell später in einer Verteidigungsschrift, die er während seiner Gefängnishaft (4. Mai-3. Juli 1919) verfasste. Die verheerenden Folgen des zu Ende gegangenen Weltkrieges, die zunehmend militanter werdenden Auseinandersetzungen im revolutionären Lager und die drohende Konterrevolution hatten ihn zur Gewissheit geführt, dass nur „die außergewöhnliche Tat“ (S. 62) einer proletarischen Räterevolution eine gesellschaftliche Reorganisation einleiten könne.
Einen Schwerpunkt in Werner Onkens Darstellung bildet die fieberhafte Tätigkeit, die Silvio Gesell während seiner achttägigen Amtszeit gemeinsam mit seinen engsten Mitarbeitern Theophil Christen und Karl Polenske entfaltete: Regelmäßige Aufklärung der Öffentlichkeit über währungspolitische Presseerklärungen; Versuch, sich mit dem ignoranten Reichsbankdirektorium über eine zukunftsorientierte antikapitalistische Geldpolitik abzustimmen; Vergabe von Druckaufträgen für Freigeldscheine und Gebührenmarken; Vorbereitung einer einmalig zu erhebenden, großen gestaffelten Vermögensabgabe zur Linderung des sozialen Elends und gerechten Verteilung der finanziellen Weltkriegsfolgen; Kontaktaufnahme mit den Münchener Betriebsräten; Abfassung eines „Proletarischen Aktionsprogramms“ mit der zusätzlichen Forderung nach einer „Aufteilung des Großgrundbesitzes und Erstellung von Heimstätten für das ländliche und städtische Proletariat“ sowie nach einer Weiterleitung der Bodenrente an eine „allgemeine Mütterkasse“ (S. 39).
Sein Ende fand das Experiment der ersten Münchener Räterepublik nach einem zurückgeschlagenen Putschversuch der – von Bamberg aus agierenden – parlamentarischen Regierung Hoffmann. Am 15. April 1919 wurde die zweite Münchener Räterepublik unter Führung der KPD ausgerufen. Auch ihr blieben nur gut zwei Wochen, bis die Stadt am 1. Mai 1919 von Wehrmacht und rechtsradikalen Freikorps erobert wurde. Die Revolution versank in einem konterrevolutionären Blutbad.
Silvio Gesell, der am 16. April 1919 auch offiziell seines Amtes enthoben worden war, hatte großes Glück, dass er am 9. Juli 1919 vor dem Standgericht vom Vorwurf des Hochverrates freigesprochen wurde. Andere Räterevolutionäre ereilte ein ungleich schwereres Schicksal. So war Gustav Landauer am 2. Mai 1919 von antisemitisch aufgehetzten Soldaten grausam ermordet worden. Erich Mühsam wurde am 12. Juli 1919 zu 15 Jahren Festungshaft verurteilt.
Ungemein kenntnis- und faktenreich bettet Werner Onken diesen ersten Versuch freiwirtschaftlichen Beginnens ein in die Revolutionsgeschichte Münchens der Jahre 1918/1919. Damit schreibt er nicht nur erfolgreich gegen blinde Flecken anderer historischer Darstellungen an. Ihm gelingt es auch sehr gut, die anhaltende Aktualität von Gesells sozialreformerischem Anliegen zu verdeutlichen.
(Diese Rezension wurde erstmals veröffentlicht in: Fairconomy, Jg. 15 / Nr. 2 – Juni 2019)