Pierre-Joseph Proudhon: Was ist das Eigentum? Zweite Denkschrift: Brief an Herrn Blanqui über das Eigentum (1841), Wien: Verlag Monte Verità, 2020, ISBN 978-3-900434-87-8, 347 Seiten
Rezension von Markus Henning

Ideengeschichtlich Neues ergibt sich häufig erst im radikalen Bruch mit Traditionen. Für eine solche Zäsur steht der französische Anarchist Pierre-Joseph Proudhon (1809-1865). Seine umfassende Strukturanalyse von Eigentum, Zins und Zirkulation machte Epoche. Proudhon eröffnete der Sozialreform tauschsozialistische Perspektiven und entwarf ein Gesellschaftsmodell generalisierter Selbstverwaltung jenseits von Kapitalismus und Kommunismus. Proudhons Schriften wurden Basislektüre für die Aufbrüche von 1848, inspirierten revolutionäre Syndikalisten ebenso wie Bodenreformer und Genossenschaftsgründer. Und sie ebneten das Terrain, auf dem Silvio Gesell (1862-1930) das Gebäude seiner Freiwirtschaftslehre errichten konnte.
Aktuell erfährt das Interesse für Proudhons Werk auch bei uns eine spürbare Renaissance. Großen Anteil hatte die unermüdliche Publikationstätigkeit von Lutz Roemheld (1937-2021) und Gerhard Senft (geb. 1956). Beides ausgewiesene Experten, die sich regelmäßig um deutschsprachige Ausgaben des großen Franzosen verdient machten.
Ihrer Kooperation verdankt sich auch das jetzt erschienene Buch mit Proudhons zweiter Denkschrift über das Eigentum. Eine engagierte, kraftvolle Anklage, von Lutz Roemheld erfrischend zeitgemäß übersetzt und in sprachlich vitale Form gebracht. Vorangestellt ist eine historisch systematische Einleitung von Gerhard Senft (S. 7-45). Sie zeichnet den Eigentumsdiskurs der Moderne nach und konturiert vor diesem Hintergrund die immer noch unverbrauchten Inhalte von Proudhons Text. Kaum zu glauben, dass dieser schon vor 179 Jahren geschrieben wurde!
Zu gegenwärtig sind die Inhalte: Unumschränkte private Verfügungsrechte über knappe oder künstlich knapp gehaltene Vermögenswerte begründen heute mehr denn je ein wirtschaftliches Gefüge, in welchem Eigentum zum Diebstahl wird. Es generiert soziale Herrschaftspositionen und regelmäßige Geldzuflüsse von Seiten tributpflichtiger Nichteigentümer. Es wälzt externe Kosten auf die Allgemeinheit ab, schürt soziale Verwerfungen und eskalierende Ungleichheit. Es bewirkt eine Rentenökonomie, deren Grundlage Proudhon normativ als „Recht auf […] unverdienten Vorteil“ (S. 83) in Frage stellt. Seine Überwindung wäre die Rückstufung entsprechender Eigentumstitel in ein bloßes, auf eigene Arbeit gegründetes Besitzrecht: „Dieses Recht, auf seine naturgegebenen Grenzen zurückgeführt, ist eben der genaue Ausdruck der Gerechtigkeit, und ich bin der Ansicht, dass es das herrschaftliche Eigentum ersetzen und schließlich die gesamte Lehre vom Recht ausmachen muss“ (S. 161).
Die sozialökonomische Umsetzung soll effektvoll, aber schonend erfolgen. Dabei sind grundsätzlich zwei Klassen von Vermögenswerten zu unterscheiden.
1) Grund und Boden als nicht vermehrbare und gleichwohl unverzichtbare Basis allen menschlichen Lebens und Arbeitens. Auch aus ökologischen Gründen projektiert Proudhon eine direkte Entkapitalisierung durch Vergesellschaftung mit anschließender Zuweisung von Nutzungsrechten nach Vorgaben der Allgemeinheit. Entsprechend einer Grundstücksbewertung sollen die bisherigen Eigentümer mit einer Leibrente entschädigt werden.
2) Für vermehrbare Vermögenswerte hingegen lehnt Proudhon eine allgemeine Enteignung kategorisch ab. Seine Zielvorstellung einer ausbeutungsfreien Marktwirtschaft soll schon in den heute angewandten Maßnahmen wirksam werden. „Das Eigentum ist, wie der Drache, den Herkules getötet hat: um ihn zu beseitigen, muss man ihn nicht am Kopf, sondern am Schwanz packen, das heißt: beim Gewinn und dem Zins“ (S. 287). Dazu setzt Proudhon auf die Entfaltung kollektiver ökonomischer Kraft durch freien Zusammenschluss und Selbsthilfe der Arbeitenden, Vernetzung ihrer Gewerbe, Organisation von gerechten Tauschbeziehungen und gegenseitigem Kredit. „Nun gibt es aber ein volkswirtschaftliches Gesetz, nämlich, dass eine umfangreichere Produktion die Menge verfügbarer Kapitalien erhöht und folglich danach strebt, die menschliche Arbeitskraft zu verteuern und schließlich den Zins gegen Null hin sinken zu lassen“ (S. 64).
Den Deutungsbereich der klassischen Ökonomie ließ Proudhon nicht nur in der Eigentumsfrage weit hinter sich. Pionier war er auch in seiner Kritik der krisenhaften Eigendynamik kapitalistischen Geldwesens. Es dauerte allerdings noch zwei Generationen, bis sein Ansatz in einer gangbaren Lösung vollendet wurde und Silvio Gesell ein unter Umlaufzwang gesetztes Freigeld modellierte.
Das soll Proudhons Verdienste nicht schmälern. Auch heute noch kann die Geld- und Bodenreform bei ihm aus dem Vollen schöpfen.
(Diese Rezension wurde erstmals veröffentlicht in: Fairconomy, Jg. 16 / Nr. 3 – Dezember 2020, S. 19)