Wolfram Beyer: Wie ich wurde, was ich bin. Politische Erinnerungen aus 50 Jahren, Berlin: IDK-Verlag, 2022 (= IDK-Texte zur Gewaltfreiheit, hrsg. v. Wolfram Beyer; 12), ISBN: 978-3-9824246-0-6, 114 Seiten, 8,90 €
Rezension von Markus Henning
Wer Kriege und ihre Ursachen bekämpfen will, darf über den Staat und seine Institutionen nicht schweigen. Der Militarismus ist das legitime Kind jeder Staatsräson. Gewaltförmig durchgesetzte Regelungshoheit und territoriale Abgrenzung münden in Aufbau und Unterhalt von Armeen, in Rüstungsproduktion und Nationalismus. Was sich auf den Schlachtfeldern in entfesselter Barbarei entlädt, ist die Verlängerung staatlicher Herrschaft und ihrer immanenten Ordnung.
Konsequenter Antimilitarismus hat genau diese Ordnung zu durchbrechen. Er folgt dem Konzept Gewaltfreier Sozialer Revolution, dessen Aktionsspektrum den anti-institutionellen Widerstand ebenso umfasst wie den konstruktiven Aufbau herrschaftsfrei solidarischer Gegenstrukturen und die Einübung friedlicher Konfliktaustragung.
Für Wolfram Beyer (geb. 1954) ist das mehr als ein bloß theoretisches Bekenntnis. Beyer ist langjähriger Aktivist und Vorstandssprecher der Internationale der Kriegsdienstgegner*innen (IDK), einer deutschen Sektion der War Resisters‘ International (WRI) mit Sitz in Berlin.
Der Anarcho-Pazifismus ist ihm tief empfundenes Ethos und Leitfaden konkreten Handelns. Veröffentlicht hat er dazu jetzt einen erfahrungsgesättigten Bericht voll autobiographischer Kraft. Die in eigenem Erleben gründende Perspektive seiner Erinnerungen und Reflektionen lässt ein halbes Jahrhundert gelebtes Engagement in einer Authentizität vor unsere Augen treten, wie es einer gelehrten wissenschaftlichen Abhandlung wohl kaum gelungen wäre.
Beyers politischer Werdegang seit den späten 1960er Jahren steht in Vielem exemplarisch für den Aufbruch einer ganzen Generation. Als West-Berliner Schüler ist auch er entsetzt über den US-amerikanischen Krieg in Vietnam. Auch er wird vom Geist der Revolte erfasst, der von den Unis auf die Stadt übergreift, sich mit neuen Formen jugendlicher Subkultur verschränkt und die Befreiung vom restaurativen bürgerlichen Konsens, von Spießertum und repressiver Sexualmoral verheißt.
Allerdings verfügt Beyer bereits zu dieser Zeit über einen reichen kosmopolitischen Erfahrungsschatz. Wegen der Berufstätigkeit seines Vaters in Afghanistan hat er von 1961 bis 1965 eine deutschsprachige Grundschule in Kabul besucht und seine Eltern auf mehrere Reisen nach Pakistan und Indien begleitet. Seitdem ist er vertraut mit Leben und Werk von Mahatma Gandhi (1869-1948) und weiß um dessen Programm libertär-gewaltfreier Massenkampagnen. „Die Person Gandhi war für meinen Vater immer ein Bezugsname für seine indischen Kulturinteressen“ (S. 58). Ein familiär vermittelter Impuls, den Beyer 1969, im Alter von 15 Jahren, wieder aufgreift und durch eigenständiges Textstudium zur Inspirationsquelle vertieft.
Kein Wunder, dass er sich vom Marxismus-Leninismus, der in der neu gegründeten DKP, in diversen K-Gruppen und in Guerilla-Strategien der Roten Armee Fraktion (RAF) eine autoritäre Renaissance erlebt, bewusst abgrenzt: „Es waren Revolutionsperspektiven nach militärischen Vorstellungen, nach der Übernahme des Staates durch Militär, Polizei und die Partei-Bürokratie, also eigentlich nur ein Austausch von Personen an den Schalthebeln der Herrschaft. Das entsprach nicht meinen freiheitlichen Vorstellungen und der Kritik an autoritären Strukturen, die wir an der bürgerlichen Gesellschaft in der BRD und auch am ‚realen Sozialismus‘ der DDR übten“ (S. 49).
Besser aufgehoben fühlt Beyer sich am Gegenpol der außerparlamentarischen Opposition, dort, wo emanzipatorische Theorie- und Bewegungstraditionen neu belebt und zeitgemäß ausdifferenziert werden. Ab 1973 ist er in der antiautoritären Schüler:innen-Bewegung aktiv, agitiert an seiner Nordberliner Oberschule all diejenigen, die nicht im „Parteientripp“ versinken wollen, mischt in einem selbstverwalteten Jugendzentrum mit, nimmt Anteil an den ersten Hausbesetzungen, engagiert sich gegen die Obristen-Diktatur in Griechenland und den Militärputsch in Chile, diskutiert die Nelkenrevolution in Portugal, ist regelmäßig im Sozialistischen Zentrum und beteiligt sich zeitweise am Info BUG, der meist wöchentlich erscheinenden Zeitung Berliner Undogmatischer Gruppen. In dieser Suchbewegung des Unterwegsseins lässt Beyer sich persönlich berühren, eignet sich das Staunen an, das Neu-Hinhören und Neu-Fühlen. Vor allem aber – und dieser Wesenszug bleibt ihm fortan erhalten – wird er auf sanfte Art standhaft und frustrationstolerant: „[…] ich lernte, dass politische Kämpfe auch verloren werden können, dass es aber darauf ankommt, dann nicht den Mut zu verlieren und in der Sache und am Thema weiterzumachen“ (S. 50).
Mit dieser Grundhaltung geht er nun selbst an die Uni und studiert von 1975 bis 1980 Politologie am Otto-Suhr-Institut. Er lernt bei Koryphäen wie Ossip K. Flechtheim (1909-1998), Johannes Agnoli (1925-2003), Ekkehard Krippendorf (1934-2018) und Theodor Ebert (geb. 1937), widmet sich der kritischen Marx-Lektüre, forscht zur Geschichte der Rätebewegung, erkundet ökologische und friedenspolitische Themen, bearbeitet Fragen von zivilem Ungehorsam und gewaltlosem Aufstand. Beim Akademischen bleibt er nicht stehen. 1978 wird er aktives Mitglied der IDK und absolviert kurz darauf ein siebenmonatiges Praktikum im Brüsseler WRI-Büro. Immer wichtiger werden ihm die Publikationen der wiedererstandenen anarchistischen Bewegung. Er entdeckt Gustav Landauer (1870-1919), Rudolf Rocker (1873-1958), Albert Camus (1913-1960) und die niederländische antimilitaristische Bewegung als geistige Bezugsgrößen. Mit der anarcho-pazifistischen Zeitschrift graswurzelrevolution tritt gewissermaßen ein neues Leitmedium in sein Leben. „Seitdem ist mein Handeln orientiert am Antimilitarismus, am libertären Sozialismus, der Gewaltfreiheit und am weltlichen Humanismus“ (S. 51).
Widerständigkeit bedeutet für Beyer, trotz aller Schwierigkeiten und Konflikte immer schon im Hier und Jetzt die Existenzform vorwegzunehmen, die die eigentlich richtige wäre. Unglaublich hartgesotten bleibt er sich treu, auch während 36 Jahren entfremdeter Lohnarbeit beim Deutschen Roten Kreuz (1981-2017). Immer versucht er, das Bestmögliche für seine Klienten herauszuholen, kämpft als Betriebsrat für die Interessen seiner Kolleg:innen und trotzt der knapp bemessenen Feierabendzeit eine Vielzahl politischer Aktivitäten ab: Berliner Flüchtlingsrat; anarchosyndikalistische Freie Arbeiter*innen-Union (FAU); Libertäres Forum Berlin; Lehrbeauftragter an der Freien Universität; eigene Veröffentlichungen als Autor und Herausgeber. Die Liste ließe sich fortsetzen und durch Beyers nicht weniger beeindruckendes Schaffen auf kulturell-musikalischem Gebiet ergänzen.
Was diese Facetten engagierten Lebens bis zum heutigen Tag wie eine inhaltliche Klammer verbindet, ist Beyers unermüdliche und transnational ausgerichtete Solidaritätsarbeit mit Deserteuren, Kriegsflüchtlingen und all denjenigen, die sich – in welcher Form auch immer – dem staatlichen Wehrpflichtsystem entziehen. „Als Pazifist und Kriegsdienstverweigerer kritisiere ich überall auf der Welt jeden Staat, der Krieg vorbereitet und Krieg führt“ (S. 69).
Als erfolgsversprechende Strategie gegen kriegerische Aggression und autoritäre Herrschaft setzt konsequenter Antimilitarismus einen tiefgreifenden Kulturwandel voraus: Relevante gesellschaftliche Minderheiten müssen gewaltfreie Aktionsformen wie Massenstreiks, Steuerverweigerung, Boykotte und Nichtzusammenarbeit mental vorbereiten und als soziale Praktiken trainieren. Aber auch wer bis dahin die Chancen passiven Widerstands und sozialer Verteidigung eher skeptisch beurteilt, wird Beyers politische Autobiographie mit Gewinn lesen können. Wolfram Beyer ist ein wichtiges Buch geglückt, wie geschaffen für finstere Zeiten wie die unseren. Aus ihm spricht die beispielgebende Kraft des langen Atems, an der wir uns innerlich aufrichten können. Lektüren wie diese brauchen wir mehr denn je.