Freiwirtschaft und libertärer Oppositionsgeist

Gerhard Senft (Hg): Zwischen Zeiten & Unzeiten. Gedenkschrift für Ludwig Stadelmann (1917-2004) zu seinem 90. Geburtstag, 2. Aufl., Leipzig: Verlag Max-Stirner-Archiv / edition unica, 2008, ISBN 978-3-933287-74-8, 211 Seiten

Rezension von Markus Henning

Seit Ende der 1980er Jahre widmet Gerhard Senft, inzwischen emeritierter Professor an der Wirtschaftsuniversität Wien, einen bedeutenden Teil seiner publizistischen Tätigkeit der Vermittlung von Anarchismus und Freiwirtschaft. Die historischen Berührungspunkte beider Strömungen, ihre analytischen Gemeinsamkeiten und Optionen für vorwärtsweisende Synthesen sind Fragestellungen, die implizit auch in die hier zu besprechende Veröffentlichung eingeflossen sind: Die Gedenkschrift für den österreichischen Freiwirtschaftler, Lebensreformer, praktizierenden Christen und Verleger Ludwig Stadelmann (1917-2004), die Senft im Leipziger Verlag Max-Stirner-Archiv herausgegeben hat. Sie versammelt acht Aufsätze, die sich über weite Strecken auch als Beiträge zu einem konstruktiven Dialog zwischen freiwirtschaftlichen Reformansätzen und anarchistischen Positionen lesen lassen.

Was sich ganz folgerichtig aus der facettenreichen Persönlichkeit und dem Lebenswerk von Ludwig Stadelmann selbst ergibt. Eines seiner entscheidenden Verdienste lässt sich zweifellos daran festmachen, über Jahrzehnte hinweg die Erinnerung an ordoliberal-freiwirtschaftliche Ideenwelten wachgehalten zu haben. Und dies aus einem radikalen Geist parteiunabhängiger Opposition, ausgerichtet an einem ganzheitlichen Emanzipationsbegriff. Demzufolge umfasste das soziale Engagement Stadelmanns die unterschiedlichsten Interessengebiete, an deren beeindruckender Vielfalt die Autoren aus je spezifischer Perspektive anzuknüpfen versuchen.

„Keiner hat ein Recht auf Gehorsam“ – dieses von Hannah Arendt geprägte Diktum beschreibt recht genau die existentielle Grundentscheidung, die sich Ludwig Stadelmann als Ergebnis einer selbstkritischen Aufarbeitung der eigenen Erfahrungen in Nationalsozialismus und Krieg zum Lebensmotto machte. In einer Collage aus biographischen Daten und profunden Ausführungen zur österreichischen Zeit- und freiwirtschaftlichen Bewegungsgeschichte (S. 11-73) gelingt Gerhard Senft eine einfühlsame Annäherung an diesen Entwicklungsgang und dessen durchgängigen Einfluss auf das weitere Schaffen Stadelmanns.

Mitte 1933 war der Sohn einer katholischen Bauernfamilie aus Vorarlberg als Sechszehnjähriger in die NSDAP eingetreten und 1941 nach seiner Promotion zum Doktor der Naturwissenschaften für den Kriegsdienst im besetzten Frankreich eingezogen worden. Im Unterschied zu vielen seiner Zeitgenossen bekannte er sich nach 1945 ohne Beschönigung zu seiner jugendlichen Verblendung und Verführbarkeit als der größten Fehlentscheidung seines Lebens. Dass ihm auch dann noch der Mut zu direktem Widerstand fehlte, als er längst Einblick in den verbrecherischen Charakter des NS-Regimes gewonnen hatte, nahm er vorbehaltlos als moralisches Versagen und tiefe Schuld auf sich. All dies blieb Stadelmann Zeit seines Lebens eine stets präsente Mahnung vor den Gefahren von Fanatismus, Intoleranz, autoritärer Anmaßung und parteimäßiger Bindung. Gerade seine grundsätzliche Kritik am Prinzip der politischen Partei war eines der Felder, auf denen Stadelmann sich fortan auch lebenspraktisch libertären Positionen näherte.

Das öffentliche Wirken für eine menschlichere Gesellschaft mit einem Höchstmaß an persönlicher Unabhängigkeit und individueller Selbstbestimmung zu verbinden – dies war der Anspruch, aus dem heraus Stadelmann während der nächsten Jahrzehnte die Alternativkultur Österreichs pionierhaft mitgestaltete. Sein 1957 von ihm selbst instand gesetzter Bergbauernhof in der Nähe von Bad Goisern wurde schon bald zu einem festen Anlaufpunkt von Naturaposteln, Heilkundlern und Weltverbesserern aller Art. Als landwirtschaftlicher Betrieb ergänzte er zudem in idealer Weise seinen „Verlag Neues Leben“, mit dem Stadelmann bereits 1946 an die Öffentlichkeit getreten war und den er 35 Jahre lang erfolgreich in Alleinregie führte. Inhaltlich geprägt wurde das Verlagsprofil ganz wesentlich von den freundschaftlichen Beziehungen und Kooperationen, die Stadelmann in antiautoritärem Selbstverständnis zu den Vertretern emanzipatorischer Reformbestrebungen aus den verschiedensten Lagern pflegte. Dazu gehörte offensichtlich auch der Anarchismus, zu dessen Verteidigung Stadelmann im Jahr 1971 eine eigene Schrift mit dem Titel Fragen und Probleme der unausgeglichenen Zivilisation publizierte.

Die anarchistische Einsicht in die destruktiven Folgen, welche Macht und Herrschaft in sozialen Verhältnissen zeitigen, beeinflusste ebenso sein intensives Engagement für eine zeitgemäße Aktualisierung freiwirtschaftlicher Positionen. Mit der strukturellen Gewalt der kapitalistischen Geld- und Bodenordnung, ihrer verhaltensprägenden Wirkung auf die gesamte Gesellschaft und den Möglichkeiten ihrer Überwindung setzte sich Stadelmann immer wieder in zahlreichen Publikationen auseinander. Hierzu gehörten volkswirtschaftlich-analytische Texte wie die Schriftenreihe Freiheit und soziale Gerechtigkeit (1974-79), interessanter Weise aber auch Hörspiele, Bühnenstücke, Lyrik und Prosa.

In ihrem Beitrag Das Geld macht immerzu Geschichte(n) (S. 108-127) unterziehen Bernadette Harrant und Alexander Preisinger die fiktional-literarische Erprobung der Freiwirtschaftslehre in Stadelmanns poetischen Schriften einer Prüfung unter ästhetischen, erkenntnistheoretischen und didaktischen Aspekten. Ihr Fazit fällt durchaus kritisch, aber nicht ohne Sympathie aus: Zwar trete in Stadelmanns Poesie die Ästhetik eindeutig zugunsten des Inhalts zurück; ihr einseitig belehrender und bekenntnishafter Charakter berge auch die Gefahr ideologischer Verabsolutierung. Dennoch bleibe seine Abfassung freiwirtschaftlichen Gedankenguts in literarisch ambitionierter Form von bleibendem Wert. Gerade hierin entpuppe Stadelmann sich als unbequemer Autor, der ökonomische Fragestellungen in die Ganzheit menschlicher Lebensäußerung einbettet und seine Leserschaft im Geist eines kritischen Christentums zur Aktion auffordert.

In seinem kurzgefassten Erinnerungsbericht über eigene Begegnungen mit Ludwig Stadelmann (S. 74 f.) ergänzt Adolf Paster dieses Persönlichkeitsbild durch den Hinweis auf dessen mitreißendes Engagement für die Opfer des internationalen Finanzsystems in den arm gehaltenen Ländern der sog. Dritten Welt.

Aufgegriffen und methodisch fruchtbar gemacht werden diese Motive im unmittelbar anschließenden Aufsatz von Christof Karner: Kirche und Revolution. Zur „Theologie der Befreiung“ in Lateinamerika – eine vorläufige historische Bilanz (S. 76-106). Das erkenntnisleitende Modell für Karner ist die von Ludwig Stadelmann beispielhaft verkörperte Synthese von Libertärsozialismus und Christentum. Als ein wesentlicher Grund für den allenthalben konstatierten Niedergang der Befreiungstheologie in den letzten drei Jahrzehnten erweist sich aus dieser Perspektive ihre ideologisch einseitige Verhaftung in marxistischem Denken. Parallel zu den Vernichtungsversuchen der Militärjuntas in den 1970er und den Attacken der Amtskirchen in den 1980er Jahren habe das analytische und praktische Versagen des Marxismus die lateinamerikanische Befreiungstheologie gesellschaftspolitisch in eine Sackgasse geführt. Durchaus schlüssig begründet Karner, warum für eine Neuorientierung die Übernahme von anarchistisch-gewaltfreien und freiwirtschaftlichen Konzepten nicht nur wünschenswert, sondern auch naheliegend wäre: Deren Vordenker wie Pierre-Joseph Proudhon, Gustav Landauer, Franz Oppenheimer oder Silvio Gesell treffen sich in ihrer staatskritischen Bevorzugung kommunaler Einrichtungen genau mit der sozialen Bewegung selbstorganisierter Basisgemeinden, in denen die Theologie der Befreiung seit jeher ihre lebendigste Ausprägung gefunden hat: „Darin könnten libertärsozialistische Reformelemente wie das umlaufgesicherte Geldwesen, das als reines Tauschmittel keine zinsbedingte Verschuldung mehr hervorruft, aber auch das pächtersozialistische Bodennutzungsrecht eine auf Gerechtigkeit aufbauende Gemeinschaft befördern“ (S. 102).

Angesichts der Krisensymptome eines von überschaubaren Zusammenhängen zunehmend entkoppelten Weltfinanzsystems suchen aber auch in unseren Breiten immer mehr Menschen nach Möglichkeiten zur Neugestaltung ihrer alltäglichen Wirtschaftsbeziehungen im Hier und Jetzt. Um die in diesem Trend angelegten Befreiungsmomente herauszuarbeiten, unternimmt Ruth Bartussek einen Ausflug in die Welt der Komplementärwährungen (S. 191-201). Ausgehend von theoretischen Arbeiten aus dem freiwirtschaftlichen und feministischen Umfeld gelangt sie zu anarchistisch anmutenden Schlussfolgerungen: Nachhaltig wirken, d.h. die Werte und Normen des etablierten Miteinanders praktisch in Frage stellen, können lokale Ansätze einer Geschenk- und Tauschökonomie oder räumlich weiter gefasste Regiogeld-Experimente nur als „Graswurzelprojekte“ – nie aber als staatlich verordnete Maßnahmen „von oben“.

Gerade indem sie das Prinzip sozialer Vielfalt von der gesellschaftlichen Basis her verkörpern, bergen derartige Initiativen auch aus makroökonomischer Perspektive erhebliche Potentiale. Durch die Belebung regionaler Wirtschaftskreisläufe könnten sie schon heute als sinnstiftende Ergänzung zentralbankgestützter Geldpolitik wirken und deren Funktionsversagen schadenmindernd entgegentreten. Zu diesem Schluss gelangt Jörg Gude in seinem Beitrag über die Umlaufsicherung des Geldes (S. 179-190). Dem monetären Grundpfeiler des freiwirtschaftlichen Reformgebäudes nähert Gude sich über eine Schnittmengenuntersuchung der theoretischen Aussagen von Silvio Gesell und John Maynard Keynes. Seine hieraus abgeleitete These: Eine Verstetigung des Geldumlaufs lässt sich dauerhaft nur dann durchsetzen, wenn nicht allein die Menge, sondern auch die Umlaufgeschwindigkeit des Geldes permanent mit den schwankenden Anforderungen des realen Wirtschaftsgeschehens abgestimmt wird. Zu diesem Zweck bietet sich der Schwundsatz an, mit dem in der Freiwirtschaft das Geld als Umlaufsicherungsgebühr belastet werden soll, um das strukturelle Ungleichgewicht zwischen Geld und Ware auszutarieren und leistungslose Einkommen abzubauen. In seiner Höhe muss dieser Schwundsatz daher variabel angelegt sein und als konjunkturpolitisches Instrumentarium aktiv gehandhabt werden können.

Dazu bieten kleinteilige, überschaubare Wirtschaftsräume offensichtlich die besten Möglichkeiten. Aus ordnungspolitischer Perspektive offenbart sich somit eine interessante Nähe der ökonomischen Analyse Gudes zum anarchistischen Ideal eines dezentralen Neuaufbaus gesellschaftlicher Strukturen.

Leider nicht behaupten lässt sich das von Erhard Glötzls Beitrag Die Geldfalle (S. 128-147), der die regierungsamtliche Einführung einer international harmonischen Kapitalbesteuerung als den einzig gangbaren Weg proklamiert, auf dem der Destruktivität des herrschenden Geld- und Zinssystems begegnet werden könne. In ihrer etatistischen Fixiertheit fällt eine derartige Position weit hinter die staatskritischen Wurzeln der Freiwirtschaftslehre selbst zurück und verkürzt den Begriff sozialer Transformation auf das Einfordern wohlfahrtlicher Interventionspolitik als neuer Staatsräson.

Am Grad ihrer ideologischen Eindimensionalität gemessen, ist sie nicht weit entfernt vom Mainstream der sozialwissenschaftlichen Modernisierungstheorien, über deren Gehalt und Rezeptionsgeschichte Gerhard Senft in seinem zweiten Artikel des vorliegenden Sammelbandes unter dem Titel Moderne ahoi! (S. 149-178) einen kritischen Überblick gibt.

Dem linearen Fortschrittsdenken mit seinen lebensfeindlichen Normalitätsunterstellungen und seinem Gegeneinander-Ausspielen von „Tradition“ und „Moderne“ hat sich Ludwig Stadelmann als „romantischer Realist“ in Leben und Werk widersetzt. Auch in dieser Hinsicht ist viel von ihm zu lernen.

(Diese Rezension wurde erstmals veröffentlicht in: espero. Forum für libertäre Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung, Berlin / Neu Wulmstorf, Jg. 15 / Nr. 56 – Juni 2008, S. 21-25)